Zores: Musik abseits aller Hörgewohnheiten   

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Chikiss, Between Time and Laziness                                                      

bureau B, 2024 - 10 Songs, 50 Min.

Seit ungefähr 2007 ist Galina Ozeran aus Belarus als Musikerin aktiv. St. Petersburg war lange so etwas wie eine Heimat für sie. Aus Gründen ist das nicht mehr so. Jetzt hat sie ihre erste Veröffentlichung auf dem feinen bureau b-Label vorgelegt. Between Time & Laziness heisst es und nein, uns allen wohlbekannt, dies Leben ist kein langer, ruhiger Fluss. Viel eher ein film noir. Und damit ist die Atmosphäre doch ganz gut beschrieben.

In den letzten zwei Jahrzehnten ist Galina Ozeran, alias Chikiss, ihrer eigenen Sehnsuchtslinie durch Post-Punk, Minimal Wave, experimenteller Electronica und Live-Improvisation gefolgt und hat einen beeindruckenden Katalog gefühlvoller und innovativer Musik geschaffen. Mit ihrer intuitiven Herangehensweise an ihr Handwerk fungiert Galina als Sprachrohr für ihre eigenen Erfahrungen und die Turbulenzen der Welt um sie herum. Nach dem gemeinsamen Schmerz der Pandemie, der brutalen Unterdrückung der Proteste in ihrer Heimat Belarus und dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine musste sie sich abkapseln und ihre Solo-Aktivitäten unterbrechen, um als Produzentin für andere zu arbeiten und Unterstützung für die Menschen in ihrer Umgebung zu geben. »Between Time and Laziness« stellt so gesehen eine Wiedergeburt dar.

Between Time and Laziness versammelt Musik aus verschiedenen Orten und Zeiten, die hier, in eine klare, kühle Form gebracht, auf Reise gehen. Der finnische Musiker Jaakko Eino Kalevi, mit dem Chikiss schon öfter zusammengearbeitet hat, pfiff, spielte Instrumente und war auch als Co-Produzent beteiligt. Gesang gibt es gar nicht so viel, vielmehr rezitiert die Musikerin vermutlich auf russisch eigene und andere Texte. Oft genug vibriert die Musik in einer schwer fassbaren Spannung, aber auch gelöstere Momente prägen dieses dream pop movie. All die widerstreitenden Empfindungen, die sich bei Chikiss über die Zeit angestaut hatten, werden sozusagen ausgepackt, betrachtet und in leuchtende, gar nicht mal so melancholische Musik verwandelt.

Natürlich ist Chikiss Musik auf Between Time and Laziness auch eine Rundreise zu den diversen Gestaltungen elektronischer Musik der letzten 50 Jahre, einschliesslich sowjetischer Filmmusiken. Freilich klingt all das allenfalls als Echo nach, gefiltert und raffiniert im zumeist schwerelosen und traumverlorenen Songwriting. Nach den eigenen Worten der Künstlerin, und da pflichte ich gerne bei: Ich glaube, es ist ein schönes Album, erfüllt von beschwörenden Melodien und Abenteuer, Geheimnis und einem Hauch von Traurigkeit.  

Anspieltipps: Evil Sky, Nevesta,   4:45, Between Time and Laziness, Into the Void     

 Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.8.2025


Malia, One Grass Skirt To London

MPS Rec., 2025 - 14 Songs, 62 Min.

8200 Kilometer trennen Malawi von London (Grossbritannien) und das ist die Strecke, die Malia einst zurückgelegt hat. Sie ist dann eine grossartige und bekannte Sängerin geworden. Unterschiedliche Erinnerungen an die Stationen ihres Lebens hat Malia nun zusammengefügt, die zugleich eine Hommage an das Kino ist, einem Ort, an dem sich die Musikerin oft genug zuhause gefühlt hat. Manchmal musste dazu auch der heimische Fernseher herhalten. Nichtsdestotrotz entstand so aus allerlei mehr oder weniger bekannten Coverversionen ein sehr persönliches Selbstportrait. 

Fast alle Cover-Versionen stammen aus Filmsoundtracks, von »Everybody's Talkin'« aus Midnight Cowboy bis »Take My Breath Away« aus Top Gun, von »Pure Imagination« aus Charlie und die Schokoladenfabrik bis »Here on My Own« aus Fame. Jeder dieser Songs hat die einzigartige Fähigkeit, durch die Musik und die von ihm hervorgerufenen Bilder, eine Emotion wiederherzustellen, die Malias eigene Identität geprägt hat. Dies half ihr Herausforderungen im Leben zu bestehen und sich als Künstlerin weiterzuentwickeln. Es ist also nicht verwunderlich, dass man in Malias Stimme, manchmal sogar in ein und demselben Lied, das kleine Mädchen, die Jugendliche, die Frau, aber auch, wie durch eine faszinierende Wirkung der vokalen Transmigration, die Seele derjenigen hört, die nicht mehr da sind... Wie gewohnt, griff sie bei ihrer Band auf ein Trio, bestehend aus dem Pianisten Alexandre Saada, dem Bassisten Jean-Daniel Botta und dem Schlagzeuger Laurent Sériès zurück, mit dem Malia seit »Black Orchid« zusammenarbeitet. Mit ihnen schafft sie es, dieses Album zu einem der persönlichsten ihrer Diskographie zu machen. (Francis Dordor)

Malias grossartige und intensive Stimme muss ich vielleicht gar nicht extra erwähnen. Damit verwandelt sie jedenfalls die Songs, die oft aus Filmen stammen, zu ihren ganz eigenen. Natürlich hat das mit der Bedeutung zutun, die sie für die Sängerin haben. Und da lässt sie sich von Genregrenzen nicht beirren. So unterschiedlich der Soundtrack für ihr Leben hier auch ausfallen mag, Malia prägt jeden einzelnen Lied den Stempel ihres Künstlerinnentums auf. Das Ganze in einer hervorragenden, äusserst klaren, aber nie zu künstlich klingenden Aufnahme. Alle Feinheiten treten hervor, ohne dabei aufdringlich zu sein. Malia und ihr Trio sind eben auch ein bestens eingespieltes Team. Und ein bisschen sophisticated dazu...was Spititualität nicht ausschliesst.

Anspieltipps: I Follow Rivers, Love Me Tender, Eyes Without Face, When I'm Cleaning Windows, Wand'rin' Star, Dambala

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.8.2025


Safi, Groteske

Rookie Rec., 2024 - 12 Songs, 46 Min.

2015 schrieb ich, anlässlich des vorletzen Safi-Albums: Noch kein letztes Wort, will ich hoffen. Ja, und Ende letzten Jahres erschien Groteske. Album Nr. 3. Endlich. Aber das Warten hat sich gelohnt.

Los gings für mich 2009: Kalt. Kalt ist das schon gar nicht. Eher arienhafter Querdenkerpunk, also ein hörnerstarrendes Unding (mit Betroffenheit auf die eingeschlagene Stirn geklebt). Safi hat sicher Nina Hagen gehört. Dazu haut Frank Semmer direkt HörerIn aufs Trommelfell, kurzschlüssig ins Hörzentrum wie die tanzenden und kreuzundquerschlagenden Textkaskaden.

Märchen und Abzählreime explodieren, es rotiert, was im Kopf umgeht und allemal besser und konkreter als auf der Couch assoziiert sichs wohl in Übungsraum und auf der Bühne. Botschaften wie dunkle Bilder vor hellem, straff musikalisierten Horizont. Vielleicht steckt in dieser Botschaft etwas von deiner eigenen Wut, deiner Ratlosigkeit, deinem Unwillen. Aber niemals Besserwisserei.

´s ist halt nicht einfach. Es treibt, sprintet, springt und kann ganz schön anstrengend sein. Das ist schon lange kein Punk mehr, Musik mit erhobenem Zeigefinger schon gar nicht, keine Wiederaufbereitungsanlage für immergleiche Parolen. Punk allerdings ist das Kopf-durch-die-Wand-hafte, das über weite Strecken Safis Lieder vorantreibt. Dazwischen gibt es Partien beinah träumerischen Dahintreibens, Worte finden sich da und sie finden Geschwister und Widerworte, aus denen sich beiläufig Sätze von finsterer Wucht bilden: Lieder aus Grübeln und Staunen, mit einem Blick von weit ganz nah auf die Welt. 

Safi, das sind ausser der namengebenden Sängerin und Gitarristin Sandra Fink (immer noch) Matthias Becker an Gitarre und Bass sowie Frank Semmer, Schlagzeug. Safi haben eine längere Vorgeschichte und sich in Leipzig zusammengefunden. Safis Musik drückt sich, nicht zuletzt durch die intensive und ungemein direkte Produktion von Moses Schneider, von den Ohren direkt in den Solarplexus. Und auf Groteske findet sich eine illustre Gästeschar, darunter Rummelsnuff.

Safis Musik ist überwiegend erfüllt von Ungestüm und Sturheit. Das ist eine prima Basis für das, was die Sängerin Safi Theater in der Stimme nennt. Eine Stimme, die eineN verfolgt wie ein cruise missile: direkt gezielt aufs Hirn und sich danach in die Eingeweide grabend, eine Spur von Verwunderung hinterlassend: Geht das denn? Hoch droben die koloraturartigen Arabesken, darunter lapidar schnoddrig Festgestelltes, kehlig-rauchige Chansonstimmung, dazwischen atemlos Kinderverse krakeelend und alles immer wieder ineinander und ganz andere Gesangscharaktere kippend, bis ins sehnsuchtsvolle Balladenhafte.

Nein, wir sind hier nicht im falschen Film. Es sind bloss viele zugleich, wie die Realitäten, die uns Tag für Tag umhüllen, wie Träume, Missempfindungen, Verwunderungen. Safis Musik lodert und brennt, kalt lassen wird sie kaum jemanden. 2009 habe ich das notiert. Und gilt und fasziniert mich auch auf dem neuen Album Groteske. Und nochmal: Noch kein letztes Wort, will ich hoffen.

Anspieltipps: Ewig diese Welt, Das Gesicht, Fieber, Der Golem, Groteske, Adrenalin

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.8.2025


Pharmakon, Maggot Mass

Sacred Bones Rec., 2024 - 5 tracks, 31 Min.

Zwei Planeten plaudern an der Bar. Etwas verschämt flüstert einer nach dem fünften Drink: Du, ich habe Menschen... Tröstend erwidert der andere: Oh shit! Aber geht vorüber...

Willkommen bei Margaret Chardiets neuestem, leider ziemlich kurzen Album Maggot Mass. Aus Sicht der Biodiversität etwa ist der Mensch zweifellos zum Schädling geworden. Er hat sich ausgebreitet wie eine Plage und seine eigene, gern von Natur befreite Umwelt geschaffen, aus Glas und Stahl, Abgasen und Plastik sowie Elektronik, die allerdings zuvor unter Kosten der Erde entrissen wurden. Ungefähr hier setzt die rabiate Musik von Maggot Mass an. Sie singt von Entfremdung, Gewalt und Einsamkeit.

Der Mensch als Krone der Schöpfung? Ein fataler Irrtum, der von der Natur mit ihren, von uns initiierten Mitteln korrigiert werden wird. Diese spezifische Auflagerung auf dem alten, recht bewährten Hirn? Da hat die Evolution womöglich einen Fehler durchgehen lassen (den die Menschheit jetzt mit KI zu wiederholen gewillt ist). Ausbeutung macht einsam. Geld ist vielleicht doch nicht das Mass aller Dinge. Hinter unserem Komfort steckt Leid. Es wird ja nicht nur kreatürliches Leben vernutzt, auch der Boden wird überstrapaziert. Grundwasser schwindet. Der Wurm im Erdreich leidet, aber er tut seine Pflicht. Vielleicht sollten wir uns den Wurm zum Vorbild nehmen, zumindest sollten wir ihn feiern. Und besingen.

Maggot Mass heisst das aktuelle Album von Pharmakon. Es setzt sich mit der Entfremdung vom Menschen (jedenfalls grundsätzlich) und seiner Umwelt ausseinander. Damit haben sich Schwerpunkt und auch die nach wie vor brachialen Mittel verändert, die die Musikerin zur Anwendung bringt. Verzerrter, heilloser Gesang ist jetzt in das Geräusch-szenario eingebettet. Der Anteil an Power Electronics ist geringer geworden, dafür sind Bezüge zu Industrial und Punk unüberhörbar. Ausdruck von Schmerz in einer heillosen Welt, die anscheinend entschlossener den  je ihre Verankerung in der Natur (auch ohne alle Gaia-Verklärung) kappen will. 

Anspieltipps: Wither And Warp, Buyer's Remorse, Splendid Isolation                           

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.8.2025 


Diana Rogerson, Blue Bottle In A Jam Jar

Nihilist, 2023 - 8 tracks, 54 Min.

Eine Suche nach Diana Rogerson führt zurück in die späten 1970er Jahre, zu altem Industrial und Kunstaktionen, zu einer BDSM-orientierten Band wie Fistfuck. Sodann zu Nurse with wound (inclusive Heirat mit Steven Stapleton) und Current 93 und zu raren Soloveröffentlichungen als Chrystal Belle Scrodd und unter ihrem eigenen Namen. Also tendenziell schräger, kultverdächtiger Britenkram und dem wird sie auch mit ihrer neuesten Veröffentlichung gerecht, die auch schon einige Zeit zurückliegt. Aber solche Musik altert ja gar nicht, sie ist in ihrer Art zeitlos. Und jeder Aktualitätsgefahr unverdächtig.

Das Universum von Blue Bottle In A Jam Jar ist klein. Ein Marmeladenglas, ein Honigtopf, der auch uns einfängt und einschliesst. Der zauberhafte Matt Waldron ist als Mitbeteiligter genannt, ein vornamenloser Zimmerman ist auch für allerlei Geräusch und Klang zuständig, Diana Rogerson führt aber beinah beiläufig alle Register Ihrer Stimme vor und zeigt ab und zu auch mal das Besteck in einer oft irritierenden, aber nicht unbedingt verstörenden Geräuschlandschaft vor.

Ein hinreissender, nirgendwo recht einzuordnender musikalischer Schabernack: Diana Rogersons recht unverhofft in die Welt gesetztes neues Album ist bedrängend und idyllisch. Und relativ gitarrenlastig. FreundInnen von Nurse with wound werden sich bestimmt wohlfühlen, für alle anderen ist es aber sicher auch keine Schocktherapie. Bloss auf irgendeinen Nenner wird kaum zu bringen sein,  was da zwischen kleiner und grösserer Welt verhandelt wird. Und gestehen wir es uns ein: Die Unterschiede in der Erwartung an das Leben von Mensch und Insekt sind vielleicht gar nicht so gross. Wobei Menschen vielleicht mehr an Musik liegt als an Honig. Doch wer weiss das schon?

Anspieltipps: Falling Apart, The Moth, Lip Service, Not What I Wanted

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.8.2025


 u n d 

 Billy Nomates, Metalhorse - Ivada Rec., 2025

Manchmal sind schwierige Lebensphasen ausser schwierig doch ein Nährboden der Kreativität. Und wenn Auftritte mit Laptop als „Karaoke“ kritisiert wird, stellt frau eben eine Band zusammen, mit der sie ein sehr persönliches, all das reflektierendes Album eispielte. Die Kirmes des Lebens ist ramponiert, aber sie dreht sich noch. Auch das metallene Pferd.

 Circuit des Yeux, Halo On the Inside - Matador, 2025

 Haley Fohr ist nicht die neue Sängerin von Depeche Mode. Das mal zur Klarstellung. Allerdings hat sie Orgel- (Synthie)klänge für sich entdeckt, um die herum sie mit einer nennenswerten Zahl verschiedener MusikerInnen eher düstere Lieder spinnt. Zwischen Introspektion und Ekstase wandelt die Musik auf einem schmalenGrat, sicher geleitet wird sie durch die grandiose Stimme Haley Fohrs.