Zores: Musik abseits aller Hörgewohnheiten   

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Akne Kid Joe, 4 von 5

Kidnap Music, 2024 - 14 Songs, 32 Min.  

1 Stern: für „sichere Übernachtung, aber kein Frühstück“ - Kommentar: Wir wollen dich auch nicht mehr bei uns in einer Zelle unseres Reviers sehen.

2 Sterne: tiefverschlammte, aber immerhin Radwege - für Mountainbiker ein Erlebnis, für Menschen auf dem Weg zur Arbeit ärgerlich

3 Sterne: ein wirklich durchtrainertes Pokemon, das seinen Weg machen wird.

4 Sterne: Akne Kid Joe. Neues Album. Super. Aber keine 5 Sterne - nie, grundsätzlich.

4 von 5 Sternen also. Gar nicht schlecht eigentlich. Sogar ganz beachtlich für eine Band aus dem Nürnberger Raum, eine Punkband tatsächlich. Ein Stern für sämtliche verwendeten drei Akkorde, ein Stern für launige Texte, ein Stern für das originelle Billigkeyboard, ein Stern für Sarah, die nicht nur singt, sondern auch Gitarre spielt. Ist doch so.  4 von 5, das muss reichen. Früher hat bei Punx sogar Dritte Wahl gereicht, da sind Akne Kid Joe mit 4 von 5 schon fein heraus. Oder ist das schon Ausverkauf? Nicht solang das Weihnachtsalbum noch nicht draussen ist. Glaubt mir.

Die sympathischen Underdogs, die Akne Kid Joe tatsächlich immer noch sind, haben ein Händchen für feine Melodien und nach wie vor krätzige Sounds. Dazu Texte, die immer wieder frech und nicht ohne Selbstbewusstsein auf den Punkt treffen und sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Musik, wie gemacht für ranzige Punkschuppen, die aber auch auf etwas grösseren Bühnen funktionieren und selbst Wohlstandskinder wie mich bei so etwas wie ihrem Gewissen abholen, womöglich. Die Welt im Allgemeinen wird nicht besser durch die Songs von Akne Kid Joe, aber sie gibt vielleicht etwas Zuversicht. 50/50 bleibt es so oder so.

Vom Masterplan zum Ausverkauf ist manchmal ein kurzer Weg. Akne Kid Joe sehen dem gelassen und mit Selbstironie ins Auge. Das Leben hält genug Fallstricke bereit, schon gar da, wo niemand sie braucht. Auch daraus lässt sich ein Song stricken, der ins Schwarze trifft. So zwischen Alltag und notwendiger Aggression finden Akne Kid Joe ihren Weg. Und vier von fünf heisst hoffentlich nicht, das nur noch ein Album von diesem munteren Haufen zu erwarten ist.

Anspieltipps: Self Titled, 50/50, Lass uns die Band auflösen..., Wer hat die Telefonnummer..., Heute im Spamordner

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024


Die Partei, Celaviemachinery

bureau b, 2024 - 12 tracks, 42 Min.

1981 veröffentlichten Tom Dokoupil und Walter Dahn als Die Partei das Album »La Freiheit des Geistes«, auf dem sie Elemente des elektronischen Krauts der 70er und 80er Jahre mit der charmanten Hektik der NDW vereinten. Nun, grad mal 43 Jahre später, präsentiert Die Partei mit »Celaviemachinery« ein Album, das diese Wurzeln reflektiert. Mit verträumten Landschaften und Anspielungen auf einflussreiche Platten ist es jedoch nicht nur eine Hommage, sondern auch ein Zeugnis kompositorischer Schönheit, das die Relevanz von Die Partei in der zeitgenössischen elektronischen Musik bekräftigt. So schreibt es der Pressetext und so könnte ich es stehen lassen.

Tom Dokoupil war ua Gitarrist der legendären The Wirtschaftswunder, Walter Dahn Beuys-Schüler und universalkünstler und zusammen verfertigten sie mit La Freiheit des Geistes ein skurriles Album, das Krautrock und die gewisse Zackigkeit der frühen NDW auf verblüffende Weise zusammenschob. Dann war es aber auch gut. Nord-Süd Fahrt hiess der letzte Track und dabei blieb es. Sehr lange. Bis jetzt, als die Reise in die Gegenrichtung angetreten wurde. Sehr entspannt, aber nicht ohne Gewitztheit und einen weitgespannten Referenzrahmen.

Celaviemachinery heisst das ziemlich unerwartete zweite Album von Die Partei. Überwiegend entspannt, das Leben nehmend und geniessend. Musikalische Landschaften eröffnen sich und man meint, Bekanntes unterschiedlicher Art darin wahrzunehmen. Aber schon gleitet die Fahrt voran, die Maschinerie der Erinnerung, kurz angeworfen, rotiert zur nächsten Szene....

Ein Trip entlang einer ziemlich bekannten Route: Die Partei ist tendenziell entspannt.  Atmosphärische Störungen ziehen schnell vorüber. Noch ist die Autobahn nicht in Sicht, doch die Maschinerie läuft glatt und geschmeidig. Die Nacht wird zum Tag, die Reise schreitet voran, von Störungen ist kaum die Rede. Ein bisschen Anspannung vielleicht, aber das darf auch mal sein. Die Partei, so sie denn nicht Recht hat, weiss durchaus, was gut ist. Der Plan ist wieder aufgegangen.

Anspieltipps: Süd-Nord Fahrt, Die Drei, Celaviemachinery, Nacht zum Tag, Untitled Filmstill

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024


Jolie Holland, Haunted Mountain

Cinquefoil, 2024 - 9 Songs, 42 Min.

Sage Francis und Tom Waits sind (oder waren - wahrscheinlich sind sie´s immer noch) Fans dieser aussergewöhnlichen Musikerin, die seit der Jahrtausendwende in Erscheinung trat. Ihr Weg führte sie dafür über bemerkenswerte Umwege von Texas, ihrer Heimat, nach zunächst Kanada. Erste Sporen verdiente sie sich dort bei der Folk-und-mehr Combo The Be Good Tanyas, bei der sie aber bald wieder ausstieg, um selber Musik zu machen.

Folk, Americana. Das ist der Stoff, aus dem Jolie Holland ihre Lieder baut. Mit mindestens einem Schlenker ins Geräuschhafte, Abseitige dazwischen. Damit wir uns angesichts der Wärme ihrer Stimme, der sachten Glut der Songs nicht zu wohl fühlen. Es schimmert etwas Unbehaustes durch, ein paar Geister der amerikanischen Geschichte vielleicht, oder die Spuren einer ausgebeuteten Natur. Haunted Mountain heisst denn auch ihr aktuelles Album, ihr achtes. Aufgenommen hat sie es mit Justin Veloso, Adam Brisbin, James Riotto und Bucks Meek. (der zugleich ein Album gleichen Namens herausbrachte - Magie, wie sie Jolie Holland liebt)

Jolie Holland sieht sich als Klangalchemistin. Aus den unterschiedlichsten Quellen formt und läutert sie ihre Songs und gibt jedem seine charakteristische Gestalt. Bluegrass, Folk, Jazz, Banjo and Fiddle: alles hat seine Berechtigung, um die Geschichte rund zu machen. Allerdíngs nicht zu rund, etwas Rohes und Ungeschliffenes blitzt meistens hervor. Aus Hartnäckigkeit geboren erwächst so Wort und Musik Zauber und Flügel. So in etwa sieht es Jolie Holland und das ist nachvollziehbar.

Die Heimsuchung der Berge hat Gründe, die Jolie Holland auch benennt, ohne plakativ zu werden. Es sind Patriarchat und Kapitalismus, die zu Gefühlen von Entfremdung und Depression führen können, zu Hilflosigkeit und dem Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Ein wenig Halt bietet da diese dunkel glimmende Musik, die ein Lagerfeuer für alle Untröstlichen entfacht. Und manchmal überläuft uns, darum sitzend, trotz aller Wärme ein Frösteln.

Anspieltipps: 2,000 Miles, Feet On The Ground, One Of You, Orange Blossoms           

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024

Drab Majesty, An Object In Motion

Dais Records, 2023 - 4 Songs, 34 Min.

Majestät hat im Pop immer einiges Gewicht, es wimmelt ja von Kings, Queens und Dukes - nun, vielleicht ist das nicht mehr ganz so wie früher. Es funkeln dafür ansatzweise auch grosses Geschmeide und breite Ketten royaler Machart, sofern nicht alles in Tragik oder zumindest Düsternis zerfliesst, verblasst, ergraut. Stichwort „grau“: Eine Farbe mit einem eher schlechten Ruf, auch wenn Visages Song „Fade to grey“ manches zur Ehrenrettung beigetragen haben mag in einer Welt, die gerade versuchte, schwärzer als schwarz zu erscheinen.

Düster, farblos und langweilig sind ein paar weitere Anwendungsvorschläge für das Wort „drab“, das, mit Majestät kombiniert, doch gleich Visionen entstehen lässt. Denen Andrew Clinco alias Deb DeMure und Alex Nicolao als Mona D. seit 2011 in pathetischen Outfits und tragischen Wavesounds nachhören. Um auf ihrer aktuellen EP zumindest ein wenig den Sirenenklängen einer besonderen Gitarre zu erliegen. An der Küste von Oregon begann es zu fliessen und strömen und die Musik verfällt in träumerische Ragas.

Ein Vexierspiel, ein Versteckspiel, ein Spiel mit Gender, mit Masken, mit Sounds natürlich auch. Drab Majesty lieben es ihr Publikum in eine Zone des Besonderen zu entführen, zu einer Audienz mit dem Aussergewöhnlichen, vielleicht sogar Überwältigendem (soweit das gerade einmal zwei MusikerInnen auf einer Bühne möglich ist). Der Sound der Band war lange wave-geschult oder an der Musik von 4AD Bands orientiert - von kühler Schönheit und tragischer Eleganz. Das darf HörerIn hier mal vergessen. An Object in Motion, der Albumtitel, beschreibt das weitgehen wortlose Ausmessen von mit zarten Krautbewuchs versehenen Klangräumen, von einem Pendeln zwischen zielgerichteter Bewegung und träumerischem Treibenlassen. Festgehalten in weit gespannten akustischen Hallräumen, von Klängen in kristallener Klarheit durchflutet. Ja, die Eleganz ist in der kühnen Konstruktion auch noch zu spüren.

Drab Mjesty haben ihr Terrain verlassen, an Majestät haben sie nichts eingebüsst. Und die Maskeraden? Zelebriert wird auf An Object In Motion natürlich auch...

Anspieltipps: Cape perpetua, Yield to force                 

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024


Myles Bullen, timetokill

Fake Four Inc., 2024 - 13 Songs, 40 Min.

Ein bisschen wenig los war leider beim feinen, hautnah zu erlebenden Queer-Konzert vor wenigen Wochen in der Kantine. Den etwas intimeren Teil des Abends bestritt Myles Bullen, zunächst am Rand sitzend, dann doch, weil es sein muss, auf der Bühne. Denn die Songs haben das Zeug dazu. Für Myles Bullen sollten die Pronomen they/them verwendet werden, was im Deutschen nicht so leicht über die Zunge geht, aber ich will dran arbeiten. They ist also ein queerer Punk-Rap-Sänger aus Portland, Maine, oft unterwegs und bespielt Orte zwischen Entzugskliniken, Bibliotheken, Festivals und Subkulturzentren. Die Themen der Songs, die immermal wieder auch einen Antifolk-Touch aufweisen, sind menschlich-allzumenschlich: Trauer, psychische Gesundheit, Beziehungen, Identität und... Cartoons. Das kommt zum Teil sehr verhalten rüber, manchmal wütend oder auch mit positiver Energie.

Wärme, Verletzlichkeit, rohe Energie und Catchiness zeichnen die Songs von Myles Bullen aus. Ein paar Instrumentaltupfer prägen die Atmosphäre, in der they uns mit auf eine Reise durch oft genug bekannte Befindlichkeiten nimmt. Das reicht dann auch mal in die Abgründe tiefer Traurigkeit, bevor eine allzuberechtigte Wut raus muss. Aber auch die sanfteren Seiten unsere Emotionen prägen das Album timetokill, dessen Titel ja auch Metal-Referenz sein könnte. Ist es nicht. Es gibt schliesslich mehr als eine Möglichkeiten, seinen Unmut über HERRschende Verhältnisse zu äussern (und ZORES gibt ihnen Raum...) Myles Bullen hat eine ganz eigene Art dafür gefunden.

Einfach auf einen Nenner zu bringen ist Myles Bullens neues Album also nicht. Viel spoken words, allerley nerdiness, ab und zu beklemmende Zartheit und eine sympathische Nähe - eins muss sich dem schon aussetzen wollen. Aber dann kann dieses Album ans Herz gehen, berühren, sogar gegen alle Widerstände zu einem Lebenswunsch anstiften, als ob es kein Morgen gäbe. Und das ist ja auch so. Lethargie ist keine Lösung, sich von Medien einlullen lassen auch keine. Dinge selber in die Hand nehmen, soweit die psychische Gesundheit es zulässt natürlich, ist besser. Myles Bullen hat dahingehend einiges durchgemacht und kann uns davon erzählen. Mit diversen Gästen und munterem style-hopping auf diesem ans Herz gehenden Album namens timetokill. Und es ist nicht so makaber wie die Vorstellung, beim Eisessen zu sterben...

Anspieltipps: Ice Cream (So close), Stephen King & Moxie (ft. Ceschi), Cherry Blossom Trees (ft. Chris Conde), Maple Syrup, Not A Metaphor (ft. Myka 9), Zero Out Of Five Star Review                                 

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 4.6.2024


All diese Gewalt, Alles ist nur Übergang

Glitterhouse Records, 2024 - 10 Songs, 37 Min.  

All diese Gewalt ist ja ein Band- respektive Projektname, der Assoziationsräume aufmacht. Hier, auf Max Riegers vierten Album unter diesem Namen, schleicht sie sich (wenn überhaupt) an. Aber auch etwas Grosses kann schleichen, und dann mag es eieN frösteln

Mitglied der Nerven, aber auch ein gesuchter Produzent. Max Rieger lebt von und in der Musik und das ist Alles ist nur Übergang anzuhören. Manches fällt dem ausgefuchsten Klangtüftler vielleicht etwas zu leicht, aber trotzdem erschafft er hier grosse, hell strahlende Klangräume. Auf denen dann doch ein grosses Gewicht zu lasten scheint.

Befindlichkeiten aller Art sind so ein wenig das sehr persönliche Metier von All diese Gewalt - die ja auch auf eineN zurückschlagen kann. Sehr poetisch, machmal die Grenze zum Kitsch streifend, dann wieder auf einen Punkt, den die Meisten teilen können: Max Riegers poetische Ader enthält nicht nur Gold, aber auch andere Stoffe sind inzwischen ja sehr gesucht. Ja, Metaphern - die Achillesverse vieler Songs, aber hier eben nicht unbedingt. Und da ist ja noch die Musik, die zwischen Intensivität und Anstrengungslosigkeit so reizvoll schillert, wie Max Rieger das kaum je zuvor hinbekommen hat.

Wer Alles ist nur Übergang für eine Anspielung auf Aktualitäten hält, liegt falsch. Das Album wurde in der Corona-Isolation begonnen und beschreibt Max Riegers Versuch, sich nicht zusehr auf ein Ziel zu fokussieren, das dann doch verfehlt wird. Hier ist der Weg schon auch ein Ziel und die Songs atmen bei aller Prägnanz immer auch eine charmante Beiläufigkeit. Und das Gewicht der Welt, das hängt so oder so über uns. 


Anspieltipps: Ich bin das Licht, 21 Gramm, Beleuchtete Höhle, 100000 TONNEN, ab AB ab  

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024


Nervous Gender, Music from Hell  

Dark Entries, 2023 - 31 tracks, 77 Min.

Die Hölle ist kleinkariert. Was sonst. Schliesslich müssen die Sünden haarklein sortiert werden und die Delinquenten sowieso. Der Höllenfürst ist ein Buchhalter. Die Musik aus der Hölle ist natürlich ganz anders. Schliesslich teilen die MusikerInnen sicher kein genre. Und sind eher nicht wegen langweiliger Musik dort gelandet, dass ist dann doch eine eher lässliche Sünde. Nein, es hat (Ab-) Gründe. Und so ist Musik aus der Hölle sicher laut, ohrenbetäubend, drastisch, eine Kakophonie. Hey, welcome Nervous Gender! Und die haben das auf dem Cover von Music from Hell haarklein so abgebildet.

Genderfragen sind in so gut wie allen Religionen Anlass für Bestrafungsfantasien. Und das bezieht sich leider nicht nur aufs Jenseits (als zweifelte die Priesterkaste an dessen Existenz): Nein, schon in der Gegenwart müssen die Menschen in heteronormative Form gebracht werden, notfalls mit Zwang und Gewalt. Kennen wir, wurde dann oft genug von staatlicher Seite als Repressionsbonus übernommen. Inzwischen ist aber doch einem Teil der Menschheit aufgegangen, dass Genderfragen privat sind und mit sich ausgemacht werden müssen, was auch nicht immer einfach ist. Und kein Pfaffe oder Polizist hat sich da einzumischen, sofern keine Gewalt im Spiel ist. Ja, pridemonth war, aber die prideweeks in Nürnberg starten gerade. Von daher Rückblick auf eine der ersten queeren Bands, die damit auch den Punk aufmischte, der ja manchen Männlichkeitsritualen eine prekäre Treue hielt und damit meine ich nicht nur das Saufen.

Nervous Gender wurden 1978 in Los Angeles von Gerardo Velazquez, Edward Stapleton, Phranc and Michael Ochoa gegründet. Ihr Sound ist geprägt von verzerrten Keyboards und Synthesizern und mit The Screamers gelten sie als Erfinder des Electropunk. Die Auftritte waren keine leichte Kost für die Zuhörenden, aber ein bissel Konfrontation darf angesichts der Umstände ja auch sein. Kommerziellem Erfolg gingen sie dadurch jedenfalls aus dem Weg...

Phrancs androgyne Erscheinung war wohl Grund für die Namensgebung, und hier liegt auch einer der Ursprünge für die queercore-Bewegung. Phranc verlies Nervous Gender allerdings schon bald. Auch sonst wechselte die Besetzung oft, zwischendrin gab es logische Verbindungen in die Industrial Szene. Nervous Gender waren so betrachtet, fluide und hinterliessen gar nicht mal so viele aufgezeichnete Spuren ihres Wirkens, das meiste sind Mitschnitte von Auftritten. Music from Hell von 1981 ist denn auch ihr einziges Studioalbum, das nun erfreulicherweise wiederveröffentlicht wurde.  Wobei die B-Seite einen Konzertmitschnitt beinhaltet.

Oft genug waren Nervous Gender ziemlich tot (1980er) oder richtig tot (Gerardo Velazquez starb 1992, Joe Zinnato wurde schwer krank), wurden aber auch oft wiederbelebt, zuletzt 2017 durch Edward Stapleton, der mit Matt Comeione Nervous Gender Reloaded erfand und 2021 ein Album namens  Milking the Borg herausbrachte. Aber das ist dann eine andere Geschichte.

Queere Musikgeschichte: Nervous Gender ist klanglich so was wie das Gegenstück zu den Stonewall Riots von 1969, die in besten Hippietagen den Aufstand queerer Menschen gegen Polizeigewalt begründete. Roh, ungeschliffen, voller Wut und angemessener Verzweiflung. Hier werden keine Rosen auf den Weg gestreut, hier zeigt sich ein konfrontativer Durchsetzungswille, Lust an der Verstörung, verhaltene Tanzbarkeit und all das Verquere, das den Reiz ungehemmten DIYs ausmachen kann. Ein Album, das nach mehr als 40 Jahren immer noch an deine Brust springt, sich dort festkrallt und dir begeistert übers Gesicht leckt.  

Anspieltipps: Monsters, Alien Point of View, People Like You, Christian Lovers, My Mommy's Chest - feat Phranc, Pretty Vacant - feat Phranc, Bathroom Sluts, Alice´s Song, Baby Face, Bathroom Sluts [Demo]

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7..2024


Darja Karzimira, Medea Forgives Jason

Cyclic Law, 2022 - 10 tracks, 66 Min.

Medea hat nicht den besten Ruf weg. Das wissen selbst die, die kaum von griechischer Mythologie Ahnung haben. Aber es ist eine verwickelte Geschichte, aus uralten Quellen, oft überformt und weitergesponnen. Halbgöttlich ist die „Ratgebende“, die in todbringender Liebe entbrennt zu Jason, der seine Aufgabe, das Goldene Flies zu „erwerben“ eigentlich auch nicht überleben sollte. Aber es gelingt dank der listenreichen Königstochter, bis es, aus dynastischen Gründen wahrscheinlich, zur tiefverletzenden Trennung kommt. Medea, auf finsterste Rache aus, tötet zwar nicht den ungetreuen Jason, aber auch die eigenen, mit ihm gezeugten Kinder. Am Ende „hellt“ sich das Bild etwas auf, denn Medea, womöglich unter göttlichem Schutz, entgeht einer Strafe. Soweit ganz kurz ein komplexer Mythos, der zahllose KünstlerInnen über die Jahrtausende(!) inspiriert hat, nicht zuletzt die litauische, in Georgien lebende Darja-Kazimira Zimina. Deren faszinierende, ritualistische Auseinandersetzung mit dem Komplex trägt den Titel Medea Forgives Jason.

Die Welt ist nicht im Gleichgewicht. Untaten geschehen. Ihnen muss ein Opfer entgegengesetzt werden. So auch in der blutigen Geschichte von Jason und Medea und Darja Kazimira nimmt die Arbeit auf sich. Ausgestattet mit einer Vielzahl zum Teil selbstgebauter Instrumente führt uns die Künstlerin durch einen Prozess, der so etwas wie einen Ausgleich erwirken soll. Das geht nicht zart. Aber ihre ausdrucksstarke Stimme ist eine starke Stütze auf dem Weg. Von Gurren und Keckern bis zu opernhafter Pracht reicht sie, erinnert momentweise an Diamanda Galas oder Lydia Lunch. Dazu tritt eine ungemein farbenreiche Instrumentierung, die den ritualhaften Charakter der Szenerie unterstreicht.

Um nicht missverstanden zu werden: Medea Forgives Jason ist keine Folge düsterer Lieder und Tänze, sondern eine komplexe, theatralische Handlung, ein Process-geschehen, das den Kräften der Gewalt und deren Einhegung Raum gibt. Das Mythische, halbgöttliche der Protagonistin, das ein facettenreiches, unlösbares Hintergrundrätsel bildet, wird überschrieben durch die fasslichere Erzählung der Kindsmörderin, einer rasenden Furie, die in blinder Wut und Eifersucht das eigene Blut mordet, um den ungetreuen Ehemann zu bestrafen. Ein Verhältnis, das sich in unserer Realität oft genug ins Gegenteil verkehrt. Die Gewalt aber, sie verbindet tiefe Vergangenheit mit dem Heute und sie erfordert nach wie vor Einhegung und Sühne. Darja Kazimira, mit der sich näher zu beschäftigen, sie ist in vielen Künsten zuhause, bietet keine Lösung, wie auch. Aber in den Klängen dieses Ablösungs-Rituals kann mensch sich mal Gedanken über die Bedingungen des Mensch-seins machen. Und ein bisschen schaudern, was gar nicht so schwer ist. Nicht zuletzt dafür liefert die Künstlerin eine dunkelgrundierte Folie.

Anspieltipps: Morning Of The Severed Head Of A Black Cock, No, Deities, I Won't Listen To You Anymore, A Hungry Dagger Plays With My Children, Dance Of The Obedient With Daggers                               

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 2.7.2024