Zores: Musik abseits aller Hörgewohnheiten   

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Maple Glider, I Get Into Trouble

PIAS, 2023 - 10 Songs, 36 Min.

Tori Zietsch wuchs in Australien in einer sehr, sehr christlichen Familie auf. Wie bei manch anderen Menschen hat das Spuren hinterlassen, die nicht unbedingt mit einem Übermass an christlicher Nächstenliebe in Verbindung zu bringen sind. Unter dem Namen Maple Glider veröffentlicht sie seit einigen Jahren Musik, I Get Into Trouble ist ihr zweites Album. Träumerisch kommt es einher, mit einer klaren, manchmal hypnotisierenden Stimme, die über allerlei Untiefen des Lebens hinwegträgt.

Anpassung und Scham werden in gewissen Familienkonstellationen belohnt, aber sie machen auch wehrlos, wie Tori Zietsch in ihrer Jugend erleben musste. In der Musik fand sie einen Ausweg und mit der rückt sie uns ziemlich nah. Was freilich zu Melancholie und Düsternis hätte gerinnen können (und das hat auch seine Berechtigung), verwandelt sich hier in ein luftiges, beinah heiteres Spiel mit Worten und Klängen. Als Maple Glider entwindet sich die Musikerin ihrer Vergangenheit, lässt sie hinter sich. Und bestaunt sie womöglich, aber jetzt aus sicherem Abstand, mit einem gewissen Humor und einigermassen losgelöst.

Mit 15 befreite sich Tori Zietsch von ihrer Familie, lernte Gitarrespielen, hatte dann erste Auftritte, ua in einem Skatepark und ging zeitweise nach Grossbritannien. 2021 veröffentlichte sie als Maple Glider ihr erstes Album mit dem schönen hedonistischen Namen To Enjoy Is The Only Thing, das gleich ziemlich gefeiert wurde. I Get Into Trouble ist so etwas wie eine Fortsetzung und Erweiterung geworden, aber auch eher aufbauend als niederdrückend. Selbst in den nachdenklichen Partien der Songs.

In schwierigen Situationen kann Musik ein Rettungsanker sein, so auch hier. Die Welt, in der Tori Zietsch aufwuchs, mag konfus und verstörend gewesen sein, restriktiv und unaufrichtig. Sie hat sich davon getrennt, und sich als Maple Glider darüber erhoben. Von Folk-Anklängen getragen, berühren die Songs unmittelbar.  Mit einer intensiven, aber beherrschten Stimme sucht die Musikerin ihre Vergangenheit ab, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen. Denkbarer Schmerz wird verwandelt, in Einsichten und Optimismus. Sowas ist nicht allen gegeben. Aber dieses Album hat es in der Hand und entlässt uns gelöst und sogar milde beschwingt - selbst der Schrei am Ende ändert nichts daran.

Anspieltipps: Do You, Two Years, Don´t Kiss Me, For You And All The Songs We Loved, Scream

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024


Renaldo M, They Blessed The Body Breadcrumbed

Klanggalerie, 2023 - 13 Songs, 43 Min.

Musikalische Brotkrumen aus 30 Jahren. So liesse sich überschreiben, was Renaldo M unter dem kryptischen Titel They Blessed The Body Breadcrumbed bei der Klanggalerie vorgelegt hat. Dazu die hübsche Geschichte, die diesen Titel angeregt hat und die etwas zusätzlichen Goldstaub auf das Ergebnis zaubert. In Zeiten, sicher besser als die unsrigen, gab es die Sündenfresser. Unrettbare Arme, die sich dazu hergaben, in ritueller Mahlzeit mit Brot und Bier fatal ungebeichtete Sünden von Bessergestellten zu sich zu nehmen und den teuren Toten somit den Weg ins Paradies zu erleichtern. Eine vergangene Dienstleistung, in deren Darstellung für mich grade eben die Aussicht auf eine neue, ingeniöse & ultralukrative Plattform aufblitzt, die nur noch

programmiert und platziert werden müsste... Aber einstweilen gehts um Musik.

Treffen sich in den späten 70ern ein Pathologe und ein Architekt...  und machen Musik. Was wie ein Witz beginnt, lässt eine äusserst schrullige Band namens Renaldo and The Loaf entstehen. Die Residents entdecken und fördern sie, es entstehen einige Alben, ein einschlägiger Ruf, dann lange nichts, dann wieder was, und noch ein Live-Album. Und in den Lücken dazwischen schraubt Renaldo M mit Gästen noch ein paar extra Songs zusammen, die dem Gesamtwerk wohl kaum nachstehen und HörerInnen schräger Klänge Vergnügen zu bereiten imstande sind.

Nach allem, was ich hier gesagt habe ist ersichtlich, das Renaldo Ms Soloalbum They Blessed The Body Breadcrumbed nicht ganz das Hitpotential aktueller Popmusik aufweist. Es greift dafür auf bewährte Mittel wie verstimmte Instrumente, pluckernde Loops und derangierte Synthesizer zurück, die sofort ein Ambiente schrulligen Charms aufrufen. Der Gesang atmet den Geist verblichener Music-Halls und verblasster Varietebühnen, gepaart mit der Anmutung unverwüstlicher Nursery Rhymes. Auf eine gewisse Weise ist diese Musik zeitlos anachronistisch und damit sehr up to date. Wie die unverwüstlichen 1980er. Was sicher an der Produktionsweise liegt, in der sehr alte, weniger alte und recht neue Schichten kunstvoll verkantet wurden.

Wer diese besondere, britisch grundierte Atmosphäre von Nonsense und Verspultheit, verschwistert mit  ratternden Rhythmen schätzt, ist bei Renaldo M gut aufgehoben. Verschmitzt zwinkernde Naivität, Volkskünste, auf links gedreht, sonniger Humor und eine gewisse Bodenlosigkeit reichen sich hier die Hände. Dies Brot für uns arme Sünder, es ist kein trocken Brot. Ein Pint dazu kann nicht schaden.

Anspieltipps: Blessing Song, When Mephisto Tangos, Mina or Maja, Fake Roses, Surreal Love, They Blessed The Body Breadcrumbed

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024


Adam Angst, Twist

Grand Hotel Van Cleef, 2023 - 11 Lieder, 36 Min.

Ungefähr zehn Jahre Adam Angst - Zeit für einen Twist. So heisst das aktuelle, nach 5jähriger Pause herausgekommene Album der vielseitigen Deutschpunker, die sich nie zu schade für eine nachdenkliche Note waren. Twist also. Und damit ist nicht der in Vergessenheit geratene Tanz gemeint, sondern eher die Lust, einen Haken zu schlagen, wo andere den Geradeauslauf bevorzugen würden. So treffen hier auch mal entwaffnend schlichte Klavierklänge auf grenzgrauen  Schweinerock. Nacheinander. Aber das ist dann auch die Spitze der Zumutung. Auch wenns zwischendrin weiterhin flott abgeht.

Das schönste an Adam Angst ist Felix Schönfuss´ schmerzbefreite Stimme. Das zweitbeste ihr Händchen für eingängige Melodien. Eher erwartbar ist das Sträusschen Themen, das dieses Album bündelt. Leider. Denn es ist alles noch aktuell, was uns seit gefühlt dem Einsturz der Türme bewegt und medial permanent an Intensität gewinnt. Jede Band, die sich politisch engagiert, kommt da nicht drumrum, auch wenn sie die Schwerpunkte jeweils etwas anders setzt und private Befindlichkeiten dazuaddiert. Adam Angsts Twist liefert einen bunten, nicht so sehr in die Tiefe gehenden Themenmix, grundiert mit einer gewissen Nachdenklichkeit, aber doch schön auf den Punk(t) gebracht. Tja, so muss Punk, der nicht ganz aus der Zeit gefallen ist.

Was dieses Album von Adam Angst auszeichnet, ist sein Abwechslungsreichtum. Was es HörerIn schwer macht, es mal eben so zu konsumieren, ist... genau. Dem gut geölten Punkschemata ist es entwachsen, und nicht erst, seitdem Felix Schönfuss zu Coronazeiten Klaviertutorials genossen hat. So mag Danger Dan den Liedern ab und zu über die Schulter linsen, aber dann dreht sich das musikalische Karussel weiter, das Twist an- und umtreibt.    Dann lässt es die Band wieder krachen und Felix Schönfuss´Stimme beginnt so gewinnend zu keifen wie zu besten Frau Potz-Zeiten. Dass es dabei nicht bleibt, zeigt tatsächlich so etwas wie einen Reifeprozess an, der das Album erwachsen aussehen lässt, aber nicht alt. Schönes Teil.    

Anspieltipps: Unter meinem Fenster, Mindset, Angst, Die Lösung für deine Probleme, Eau de toilette               

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024


Ragana, Desolation's Flower

Flenser, 2023 - 7 Tracks, 41 Min.

Ragana, das sind die etwas besonderen Hexen im Baltikum, in Litauen etwa. Und vergesst ein paar Klischees, diese Hexen müssen nicht hässlich sein. Allerdings ist sie tatsächlich nicht besonders nett zu Menschen, dafür naturverbunden. Nur dass ihrs wisst. Blumen in der Einöde findet das amerikanische black/doom metal Duo gleichen Namens und diese stehen auch für queere und trans-Lebensweisen. Das setzt karge Glanzlichter in das Dickicht aus Finsternis, das ansonsten beschworen wird.

Maria (Stocke) und Coley (Gilson) fanden über ihre Vorliebe zu Wolves in the Throne Room zusammen und riefen Ragana 2011 ins Leben. Ein Jahr später erschien ihr erstes Album. Ragana begreifen sich als sehr politisches Projekt, queer und antifaschistisch, was sich auch auf ihre Labelauswahl auswirkt. Desolation's Flower ist ihr fünftes Album und zeigt sie musikalisch in Höchstform.

Viszerale Musik für herausfordernde Zeiten: Black Metal stellt sich dem auf unterschiedlichste Weise. Ich will hier gar nicht vom NSBM sprechen, es gibt auch so manch Unangenehmes in diesem Bereich, was gar nicht mal der Musik geschuldet sein muss. Aber den Menschen, die sie spielen. Insofern schliessen Ragana, ähnlich wie vielleicht Divide And Dissolve eine oft genug als schmerzlich empfundene politische Lücke. Das macht ihre Musik nicht lieblicher, zumal Textverständlichkeit in diesem Genre keine hohe Priorität hat. Die Haltung lässt sich nicht unbedingt an der Musik selbst festmachen, aber an ihren Orten und ihren Gemeinschaften. Und so findet diese sich an die Eingeweide krallende Musik Platz da, wo es oft softer und träumerischer zugeht. Und da hat sie auch ihre Berechtigung. Ein schwarzes Loch an diffusen Gefühlen von Trauer bis Widerstandskraft. Ein Zerren nach Innen und zugleich rasender Ausbruch. Maria und Coley begreifen sich beide zuerst als Drummer, sie reichen sich die Sticks gegenseitig weiter, während die Gitarre dröhnt und der Gesang Schmerz und Wut beschwört. Und ab und zu Trübsal.

Desolation's Flower: Ebenso rabiate wie empfindsame Musik für eine Welt, die an ein Ende gekommen zu scheint. Für Ragana muss eigentlich alles niedergerissen werden, bevor eine neue, solidarischere Welt erblühen kann. Bis dahin setzt uns ihre Musik ein Stück weit in Flammen, beschwört Gespenster, reisst Herzen aus und wiegt uns mitleidsvoll in vermutlich trügerischer Melancholie.

Anspieltipps: Desolation's Flower, Ruins, DTA          

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024


Matana Roberts, Coin Coin Chapter Five - In The Garden

Constellation, 2023 - 16 tracks, 58 Min.

Geschichte vergeht nicht so einfach. Auch wenn sie lange nicht beachtet wurde, weil sie zu unbedeutend erschien. Jedenfalls für die, die gewöhnlich die Bücher mit Geschichte füllen. Sie haben kaum Platz für Schwarze Menschen, für Frauen, für queere Personen. Ein bisschen ändert sich das gerade und so springe ich quasi auf einen Zug auf, den die kanadische Musikerin Matana Roberts schon vor Jahren aufs Gleis gesetzt hat. Coin Coin Chapter Five - In The Garden heisst dieses Album, 5. Teil eines grossangelegten Projekts, das dem Leben ihrer Vorfahren nachspürt. Eine Spurensuche, die die unterschiedlichsten Formen annehmen konnte und kann - hier Matana Roberts Saxophon als Verkörperlichung von Erfahrungen, begleitet von einem Ensemble in der Aufbruchstradition des Chicago Jazz, bewegt durch spoken words und unterfüttert von den aktuellen Änderungen der US-amerikanischen Abtreibungsrechten, denen ja auch zB Argentiniens libertärer Präsident nacheifern würde. Die Stimme einer Frau spricht zu uns, einer Schwarzen Frau aus dem 20. Jahrhundert, die sich in ihrer besonderen Situation nicht anders zu helfen wusste, als sich von einer hohen Treppe zu stürzen. Und daran starb.

Geisterstimmen. Coin Coin, das ist ein Spitzname. Name einer Vorfahrin. Der Garten, ein Panorama, in das Geschichte eingeflochten ist. Hochspezialisiert dargeboten und dann im Ton von Folk Songs und Spirituals. Das Saxophon spricht und verblendet Leben und Tod. Die Elektrizität des Lebens, seine Lebendigkeit, sein Geist - sie zählen auf einmal nichts mehr. Etwas hat stattgefunden, es hätte nicht sein sollen. Nicht unter diesen Umständen, nicht zu diesem Zeitpunkt. Und dieser Zeitpunkt, der ist ja neuerdings wieder: JETZT. Hilfe bekommt, wer es sich leisten kann, wem kein Missgeschick unterlaufen ist. So rennt das Leben davon, damals wie heute. Das sind Momente, die nur Frauen so in ihrer Krassheit, ihre Ausweglosigkeit, aber auch bei anderer Gelegenheit, in ihrer Freude erleben können. Matana Robert lässt vielstimmig diese Geschichte passieren, verblendet ohrenöffnende Avantgarde mit Momenten hoher Intimität und ergreifender Schlichtheit.  Trotz aller musikalischen Diversität ist Coin Coin Chapter Five - In The Garden eigentlich keine Zumutung, aber doch eine Herausforderung. Es hat ein Thema, das nach wie vor viele Menschen nicht unberührt lässt. Das zu Diskussionen auffordert. Und darin ganz den Geist eines spirituellen Jazz aufnimmt, der mehr sein kann als pointierte Unterhaltung.

Anspieltipps: Bitte durchhören!

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024                             

Viji, So Vanilla

Speedy Wunderground, 2023 - 12 Songs, 40 Min.

Vanille mag ich nicht besonders. Zumal im Übermass. Ein Album, das die Vanille schon im Titel beschwört, sehe ich skeptisch. Dies vorweg. Dann kam Viji.

Tatsächlich heisst Viji Vanilla Jenner mit vollem Namen und kam in Wien auf die Welt. Vermutlich war es nicht nur Corona geschuldet, dass sie Musik machen wollte. Aber da ging es wohl los. Und offenbar gab es viel Interesse an den 90er und frühen 2000er Jahren, die da ihren Weg in diese Songs aus dem notorischen Schlafzimmer gefunden haben. Ergebnis: So also klingt catchy dreampop up to date, leicht verschlafen, bis die Gitarre dröhnt. Bestes aus zwei Welten mindestens will Viji auf ihrem Album vereinen... und liegt dabei gut im Rennen.

Lauter kleine musikalische Perlen, manchmal etwas grummelig. Sie besingen Alltagsmomente, kuscheln sich auch mal in eine wärmende Decke. Manchmal rumpelt es etwas, aber Viji bleibt locker und charmant. Mit leicht kehliger Stimme spürt sie ihren Emotionen nach, aber die lassen sich in gutgebauten Songs einfangen. Auch wenn deren Kanten manchmal nicht so glatt geschliffen sind, wie es möglich wäre. Da bleibt doch eine gewisse Sprödigkeit unter diesen behenden, süssen Klangen, die diesem Album und der Musikerin dahinter, Viji, gut zu Gesicht stehen. 

Anspieltipps: Down, Sharks, Karaoke, Blanket, Say Hi

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024


Mike Ladd - Tom Malmendier - Emilie Škrijelj, The Kort´dakian Crisis

eux sæm, 202? - 1 track, 43 Min.

Ein amerikanischer spoken word Künstler, eine auch an Plattenspielern aktive Akkordeonistin und ein belgischer Schlagzeuger treffen sich 2021. Corona liegt kaum zurück, es ist Zeit für eine... Krise. Denn Mike Ladd hat einen einschlägigen Text vorbereitet. Ein Planet wird angegriffen und setzt sich zur Wehr. Die dystopische Sci Fi Geschichte lässt sich ebenso symbolisch wie als konkrete Warnung lesen. The Kort´dakian Crisis, mit der dieses Sendung ausklingt, erweist sich als beunruhigende Szenerie aus Hektik und Hysterie, Schlachtengetümmel, Mut und Opferbereitschaft, kurz alles, was gediegene Fantasy ausmacht. Aber alles, sagt Mike Ladd, nur ein Wimpernschlag von der Welt entfernt, in der wir leben. Tom Malmendier und Emilie Škrijelj improvisieren dazu einen bildgewaltigen und erfindungsreichen Soundtrack, der den Plot in dunkle und ungewisse Regieonen finsterer Fantasien zerrt und schiebt. Kraftvolles, beunruhigendes Hörkino, ich habs letztes Jahr beim unlimited erleben dürfen.  

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.3.2024