Zores: Musik abseits aller Hörgewohnheiten Jeden 1. Dienstag im Monat 21 - 24 Uhr bei Radio Z 95,8 MHz |
|||
|
Akne
Kid Joe,
4 von 5 Kidnap
Music, 2024 - 14 Songs, 32 Min. 1
Stern: für „sichere Übernachtung, aber kein Frühstück“ -
Kommentar: Wir wollen dich auch nicht mehr bei uns in einer Zelle
unseres Reviers sehen. 2
Sterne: tiefverschlammte, aber immerhin Radwege - für Mountainbiker
ein Erlebnis, für Menschen auf dem Weg zur Arbeit ärgerlich 3
Sterne: ein wirklich durchtrainertes Pokemon, das seinen Weg machen
wird. 4
Sterne: Akne Kid Joe. Neues Album. Super. Aber keine 5 Sterne - nie,
grundsätzlich. 4
von 5 Sternen also. Gar nicht schlecht eigentlich. Sogar ganz
beachtlich für eine Band aus dem Nürnberger Raum, eine Punkband tatsächlich.
Ein Stern für sämtliche verwendeten drei Akkorde, ein Stern für
launige Texte, ein Stern für das originelle Billigkeyboard, ein Stern
für Sarah, die nicht nur singt, sondern auch Gitarre spielt. Ist doch
so. 4 von 5, das muss
reichen. Früher hat bei Punx sogar Dritte Wahl gereicht, da sind Akne
Kid Joe mit 4 von 5 schon fein heraus. Oder ist das schon Ausverkauf?
Nicht solang das Weihnachtsalbum noch nicht draussen ist. Glaubt mir. Die
sympathischen Underdogs, die Akne Kid Joe tatsächlich immer noch
sind, haben ein Händchen für feine Melodien und nach wie vor krätzige
Sounds. Dazu Texte, die immer wieder frech und nicht ohne
Selbstbewusstsein auf den Punkt treffen und sich selbst nicht zu
wichtig nehmen. Musik, wie gemacht für ranzige Punkschuppen, die aber
auch auf etwas grösseren Bühnen funktionieren und selbst
Wohlstandskinder wie mich bei so etwas wie ihrem Gewissen abholen, womöglich.
Die Welt im Allgemeinen wird nicht besser durch die Songs von Akne Kid
Joe, aber sie gibt vielleicht etwas Zuversicht. 50/50 bleibt es so
oder so. Vom
Masterplan zum Ausverkauf ist manchmal ein kurzer Weg. Akne Kid Joe
sehen dem gelassen und mit Selbstironie ins Auge. Das Leben hält
genug Fallstricke bereit, schon gar da, wo niemand sie braucht. Auch
daraus lässt sich ein Song stricken, der ins Schwarze trifft. So
zwischen Alltag und notwendiger Aggression finden Akne Kid Joe ihren
Weg. Und vier von fünf heisst hoffentlich nicht, das nur noch ein
Album von diesem munteren Haufen zu erwarten ist. Anspieltipps:
Self Titled, 50/50, Lass uns die Band auflösen..., Wer hat die
Telefonnummer..., Heute im Spamordner Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 2.7.2024 Die
Partei,
Celaviemachinery bureau
b, 2024 - 12 tracks, 42 Min. 1981
veröffentlichten Tom Dokoupil und Walter Dahn als Die Partei das
Album »La Freiheit des Geistes«, auf dem sie Elemente des
elektronischen Krauts der 70er und 80er Jahre mit der charmanten
Hektik der NDW vereinten. Nun, grad mal 43 Jahre später, präsentiert
Die Partei mit »Celaviemachinery« ein Album, das diese Wurzeln
reflektiert. Mit verträumten Landschaften und Anspielungen auf
einflussreiche Platten ist es jedoch nicht nur eine Hommage, sondern
auch ein Zeugnis kompositorischer Schönheit, das die Relevanz von Die
Partei in der zeitgenössischen elektronischen Musik bekräftigt. So
schreibt es der Pressetext und so könnte ich es stehen lassen. Tom
Dokoupil war ua Gitarrist der legendären The Wirtschaftswunder,
Walter Dahn Beuys-Schüler und universalkünstler und zusammen
verfertigten sie mit La Freiheit des Geistes ein skurriles Album, das
Krautrock und die gewisse Zackigkeit der frühen NDW auf verblüffende
Weise zusammenschob. Dann war es aber auch gut. Nord-Süd Fahrt hiess
der letzte Track und dabei blieb es. Sehr lange. Bis jetzt, als die
Reise in die Gegenrichtung angetreten wurde. Sehr entspannt, aber
nicht ohne Gewitztheit und einen weitgespannten Referenzrahmen. Celaviemachinery
heisst das ziemlich unerwartete zweite Album von Die Partei. Überwiegend
entspannt, das Leben nehmend und geniessend. Musikalische Landschaften
eröffnen sich und man meint, Bekanntes unterschiedlicher Art darin
wahrzunehmen. Aber schon gleitet die Fahrt voran, die Maschinerie der
Erinnerung, kurz angeworfen, rotiert zur nächsten Szene.... Ein
Trip entlang einer ziemlich bekannten Route: Die Partei ist
tendenziell entspannt. Atmosphärische
Störungen ziehen schnell vorüber. Noch ist die Autobahn nicht in
Sicht, doch die Maschinerie läuft glatt und geschmeidig. Die Nacht
wird zum Tag, die Reise schreitet voran, von Störungen ist kaum die
Rede. Ein bisschen Anspannung vielleicht, aber das darf auch mal sein.
Die Partei, so sie denn nicht Recht hat, weiss durchaus, was gut ist.
Der Plan ist wieder aufgegangen. Anspieltipps:
Süd-Nord Fahrt, Die Drei, Celaviemachinery, Nacht zum Tag, Untitled
Filmstill Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 2.7.2024 Jolie
Holland,
Haunted Mountain Cinquefoil,
2024 - 9 Songs, 42 Min. Sage
Francis und Tom Waits sind (oder waren - wahrscheinlich sind sie´s
immer noch) Fans dieser aussergewöhnlichen Musikerin, die seit der
Jahrtausendwende in Erscheinung trat. Ihr Weg führte sie dafür über
bemerkenswerte Umwege von Texas, ihrer Heimat, nach zunächst Kanada.
Erste Sporen verdiente sie sich dort bei der Folk-und-mehr Combo The
Be Good Tanyas, bei der sie aber bald wieder ausstieg, um selber Musik
zu machen. Folk,
Americana. Das ist der Stoff, aus dem Jolie Holland ihre Lieder baut.
Mit mindestens einem Schlenker ins Geräuschhafte, Abseitige
dazwischen. Damit wir uns angesichts der Wärme ihrer Stimme, der
sachten Glut der Songs nicht zu wohl fühlen. Es schimmert etwas
Unbehaustes durch, ein paar Geister der amerikanischen Geschichte
vielleicht, oder die Spuren einer ausgebeuteten Natur. Haunted
Mountain heisst denn auch ihr aktuelles Album, ihr achtes. Aufgenommen
hat sie es mit Justin Veloso, Adam Brisbin, James Riotto und Bucks
Meek. (der zugleich ein Album gleichen Namens herausbrachte - Magie,
wie sie Jolie Holland liebt) Jolie
Holland sieht sich als Klangalchemistin. Aus den unterschiedlichsten
Quellen formt und läutert sie ihre Songs und gibt jedem seine
charakteristische Gestalt. Bluegrass, Folk, Jazz, Banjo and Fiddle:
alles hat seine Berechtigung, um die Geschichte rund zu machen. Allerdíngs
nicht zu rund, etwas Rohes und Ungeschliffenes blitzt meistens hervor.
Aus Hartnäckigkeit geboren erwächst so Wort und Musik Zauber und Flügel.
So in etwa sieht es Jolie Holland und das ist nachvollziehbar. Die
Heimsuchung der Berge hat Gründe, die Jolie Holland auch benennt,
ohne plakativ zu werden. Es sind Patriarchat und Kapitalismus, die zu
Gefühlen von Entfremdung und Depression führen können, zu
Hilflosigkeit und dem Gefühl, den Boden unter den Füssen zu
verlieren. Ein wenig Halt bietet da diese dunkel glimmende Musik, die
ein Lagerfeuer für alle Untröstlichen entfacht. Und manchmal überläuft
uns, darum sitzend, trotz aller Wärme ein Frösteln. Anspieltipps:
2,000 Miles, Feet On The Ground, One Of You, Orange Blossoms
Drab
Majesty,
An Object In Motion Dais
Records, 2023 - 4 Songs, 34 Min. Majestät
hat im Pop immer einiges Gewicht, es wimmelt ja von Kings, Queens und
Dukes - nun, vielleicht ist das nicht mehr ganz so wie früher. Es
funkeln dafür ansatzweise auch grosses Geschmeide und breite Ketten
royaler Machart, sofern nicht alles in Tragik oder zumindest Düsternis
zerfliesst, verblasst, ergraut. Stichwort „grau“: Eine Farbe mit
einem eher schlechten Ruf, auch wenn Visages Song „Fade to grey“
manches zur Ehrenrettung beigetragen haben mag in einer Welt, die
gerade versuchte, schwärzer als schwarz zu erscheinen. Düster,
farblos und langweilig sind ein paar weitere Anwendungsvorschläge für
das Wort „drab“, das, mit Majestät kombiniert, doch gleich
Visionen entstehen lässt. Denen Andrew Clinco alias Deb DeMure und
Alex Nicolao als Mona D. seit 2011 in pathetischen Outfits und
tragischen Wavesounds nachhören. Um auf ihrer aktuellen EP zumindest
ein wenig den Sirenenklängen einer besonderen Gitarre zu erliegen. An
der Küste von Oregon begann es zu fliessen und strömen und die Musik
verfällt in träumerische Ragas. Ein
Vexierspiel, ein Versteckspiel, ein Spiel mit Gender, mit Masken, mit
Sounds natürlich auch. Drab Majesty lieben es ihr Publikum in eine
Zone des Besonderen zu entführen, zu einer Audienz mit dem Aussergewöhnlichen,
vielleicht sogar Überwältigendem (soweit das gerade einmal zwei
MusikerInnen auf einer Bühne möglich ist). Der Sound der Band war
lange wave-geschult oder an der Musik von 4AD Bands orientiert - von kühler
Schönheit und tragischer Eleganz. Das darf HörerIn hier mal
vergessen. An Object in Motion, der Albumtitel, beschreibt das
weitgehen wortlose Ausmessen von mit zarten Krautbewuchs versehenen
Klangräumen, von einem Pendeln zwischen zielgerichteter Bewegung und
träumerischem Treibenlassen. Festgehalten in weit gespannten
akustischen Hallräumen, von Klängen in kristallener Klarheit
durchflutet. Ja, die Eleganz ist in der kühnen Konstruktion auch noch
zu spüren. Drab
Mjesty haben ihr Terrain verlassen, an Majestät haben sie nichts
eingebüsst. Und die Maskeraden? Zelebriert wird auf An Object In
Motion natürlich auch... Anspieltipps:
Cape perpetua, Yield to force
Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 2.7.2024 Myles
Bullen,
timetokill Fake
Four Inc., 2024 - 13 Songs, 40 Min. Ein
bisschen wenig los war leider beim feinen, hautnah zu erlebenden
Queer-Konzert vor wenigen Wochen in der Kantine. Den etwas intimeren
Teil des Abends bestritt Myles Bullen, zunächst am Rand sitzend, dann
doch, weil es sein muss, auf der Bühne. Denn die Songs haben das Zeug
dazu. Für Myles Bullen sollten die Pronomen they/them verwendet
werden, was im Deutschen nicht so leicht über die Zunge geht, aber
ich will dran arbeiten. They ist also ein queerer Punk-Rap-Sänger
aus Portland, Maine, oft unterwegs und bespielt Orte zwischen
Entzugskliniken, Bibliotheken, Festivals und Subkulturzentren. Die
Themen der Songs, die immermal wieder auch einen Antifolk-Touch
aufweisen, sind menschlich-allzumenschlich: Trauer, psychische
Gesundheit, Beziehungen, Identität und... Cartoons. Das kommt zum
Teil sehr verhalten rüber, manchmal wütend oder auch mit positiver
Energie. Wärme,
Verletzlichkeit, rohe Energie und Catchiness zeichnen die Songs von
Myles Bullen aus. Ein paar Instrumentaltupfer prägen die Atmosphäre,
in der they uns mit auf eine Reise durch oft genug bekannte
Befindlichkeiten nimmt. Das reicht dann auch mal in die Abgründe
tiefer Traurigkeit, bevor eine allzuberechtigte Wut raus muss. Aber
auch die sanfteren Seiten unsere Emotionen prägen das Album
timetokill, dessen Titel ja auch Metal-Referenz sein könnte. Ist es
nicht. Es gibt schliesslich mehr als eine Möglichkeiten, seinen Unmut
über HERRschende Verhältnisse zu äussern (und ZORES gibt ihnen
Raum...) Myles Bullen hat eine ganz eigene Art dafür gefunden. Einfach
auf einen Nenner zu bringen ist Myles Bullens neues Album also nicht.
Viel spoken words, allerley nerdiness, ab und zu beklemmende Zartheit
und eine sympathische Nähe - eins muss sich dem schon aussetzen
wollen. Aber dann kann dieses Album ans Herz gehen, berühren, sogar
gegen alle Widerstände zu einem Lebenswunsch anstiften, als ob es
kein Morgen gäbe. Und das ist ja auch so. Lethargie ist keine Lösung,
sich von Medien einlullen lassen auch keine. Dinge selber in die Hand
nehmen, soweit die psychische Gesundheit es zulässt natürlich, ist
besser. Myles Bullen hat dahingehend einiges durchgemacht und kann uns
davon erzählen. Mit diversen Gästen und munterem style-hopping auf
diesem ans Herz gehenden Album namens timetokill. Und es ist nicht so
makaber wie die Vorstellung, beim Eisessen zu sterben... Anspieltipps:
Ice
Cream (So close), Stephen King & Moxie
(ft. Ceschi), Cherry Blossom Trees (ft. Chris Conde), Maple Syrup, Not
A Metaphor (ft. Myka 9), Zero Out Of Five Star Review Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 4.6.2024 All
diese Gewalt,
Alles ist nur Übergang Glitterhouse
Records, 2024 - 10 Songs, 37 Min. All
diese Gewalt ist ja ein Band- respektive Projektname, der
Assoziationsräume aufmacht. Hier, auf Max Riegers vierten Album unter
diesem Namen, schleicht sie sich (wenn überhaupt) an. Aber auch etwas
Grosses kann schleichen, und dann mag es eieN frösteln Mitglied
der Nerven, aber auch ein gesuchter Produzent. Max Rieger lebt von und
in der Musik und das ist Alles ist nur Übergang anzuhören. Manches fällt
dem ausgefuchsten Klangtüftler vielleicht etwas zu leicht, aber
trotzdem erschafft er hier grosse, hell strahlende Klangräume. Auf
denen dann doch ein grosses Gewicht zu lasten scheint. Befindlichkeiten
aller Art sind so ein wenig das sehr persönliche Metier von All diese
Gewalt - die ja auch auf eineN zurückschlagen kann. Sehr poetisch,
machmal die Grenze zum Kitsch streifend, dann wieder auf einen Punkt,
den die Meisten teilen können: Max Riegers poetische Ader enthält
nicht nur Gold, aber auch andere Stoffe sind inzwischen ja sehr
gesucht. Ja, Metaphern - die Achillesverse vieler Songs, aber hier
eben nicht unbedingt. Und da ist ja noch die Musik, die zwischen
Intensivität und Anstrengungslosigkeit so reizvoll schillert, wie Max
Rieger das kaum je zuvor hinbekommen hat. Wer
Alles ist nur Übergang für eine Anspielung auf Aktualitäten hält,
liegt falsch. Das Album wurde in der Corona-Isolation begonnen und
beschreibt Max Riegers Versuch, sich nicht zusehr auf ein Ziel zu
fokussieren, das dann doch verfehlt wird. Hier ist der Weg schon auch
ein Ziel und die Songs atmen bei aller Prägnanz immer auch eine
charmante Beiläufigkeit. Und das Gewicht der Welt, das hängt so oder
so über uns.
Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 2.7.2024 Nervous
Gender,
Music from Hell
Dark
Entries, 2023 - 31 tracks, 77 Min. Die
Hölle ist kleinkariert. Was sonst. Schliesslich müssen die Sünden
haarklein sortiert werden und die Delinquenten sowieso. Der Höllenfürst
ist ein Buchhalter. Die Musik aus der Hölle ist natürlich ganz
anders. Schliesslich teilen die MusikerInnen sicher kein genre. Und
sind eher nicht wegen langweiliger Musik dort gelandet, dass ist dann
doch eine eher lässliche Sünde. Nein, es hat (Ab-) Gründe. Und so
ist Musik aus der Hölle sicher laut, ohrenbetäubend, drastisch, eine
Kakophonie. Hey, welcome Nervous Gender! Und die haben das auf dem
Cover von Music from Hell haarklein so abgebildet. Genderfragen
sind in so gut wie allen Religionen Anlass für Bestrafungsfantasien.
Und das bezieht sich leider nicht nur aufs Jenseits (als zweifelte die
Priesterkaste an dessen Existenz): Nein, schon in der Gegenwart müssen
die Menschen in heteronormative Form gebracht werden, notfalls mit
Zwang und Gewalt. Kennen wir, wurde dann oft genug von staatlicher
Seite als Repressionsbonus übernommen. Inzwischen ist aber doch einem
Teil der Menschheit aufgegangen, dass Genderfragen privat sind und mit
sich ausgemacht werden müssen, was auch nicht immer einfach ist. Und
kein Pfaffe oder Polizist hat sich da einzumischen, sofern keine
Gewalt im Spiel ist. Ja, pridemonth war, aber die prideweeks in Nürnberg
starten gerade. Von daher Rückblick auf eine der ersten queeren
Bands, die damit auch den Punk aufmischte, der ja manchen Männlichkeitsritualen
eine prekäre Treue hielt und damit meine ich nicht nur das Saufen. Nervous
Gender wurden 1978 in Los Angeles von
Gerardo
Velazquez, Edward Stapleton, Phranc and Michael Ochoa gegründet. Ihr Sound ist
geprägt von verzerrten Keyboards und Synthesizern und mit The
Screamers gelten sie als Erfinder des Electropunk. Die Auftritte waren
keine leichte Kost für die Zuhörenden, aber ein bissel Konfrontation
darf angesichts der Umstände ja auch sein. Kommerziellem Erfolg
gingen sie dadurch jedenfalls aus dem Weg... Phrancs
androgyne Erscheinung war wohl Grund für die Namensgebung, und hier
liegt auch einer der Ursprünge für die queercore-Bewegung. Phranc
verlies Nervous Gender allerdings schon bald. Auch sonst wechselte die
Besetzung oft, zwischendrin gab es logische Verbindungen in die
Industrial Szene. Nervous Gender waren so betrachtet, fluide und
hinterliessen gar nicht mal so viele aufgezeichnete Spuren ihres
Wirkens, das meiste sind Mitschnitte von Auftritten. Music from Hell
von 1981 ist denn auch ihr einziges Studioalbum, das nun
erfreulicherweise wiederveröffentlicht wurde.
Wobei die B-Seite einen Konzertmitschnitt beinhaltet. Oft
genug waren Nervous Gender ziemlich tot (1980er) oder richtig tot
(Gerardo Velazquez starb 1992, Joe Zinnato wurde schwer krank), wurden
aber auch oft wiederbelebt, zuletzt 2017
durch Edward Stapleton, der mit Matt Comeione Nervous Gender Reloaded
erfand und 2021 ein Album namens Milking
the Borg herausbrachte. Aber das ist dann eine andere Geschichte. Queere
Musikgeschichte: Nervous Gender ist klanglich so was wie das Gegenstück
zu den Stonewall Riots von 1969, die in besten Hippietagen den
Aufstand queerer Menschen gegen Polizeigewalt begründete. Roh,
ungeschliffen, voller Wut und angemessener Verzweiflung. Hier werden
keine Rosen auf den Weg gestreut, hier zeigt sich ein konfrontativer
Durchsetzungswille, Lust an der Verstörung, verhaltene Tanzbarkeit
und all das Verquere, das den Reiz ungehemmten DIYs ausmachen kann.
Ein Album, das nach mehr als 40 Jahren immer noch an deine Brust
springt, sich dort festkrallt und dir begeistert übers Gesicht leckt.
Anspieltipps:
Monsters, Alien Point of View, People Like You, Christian
Lovers, My Mommy's Chest - feat Phranc, Pretty Vacant - feat Phranc,
Bathroom Sluts, Alice´s Song, Baby Face, Bathroom Sluts [Demo]
Hans
Plesch für ZORES auf Radio
Z, 2.7..2024 Darja
Karzimira,
Medea Forgives Jason Cyclic
Law, 2022 - 10 tracks, 66 Min. Medea
hat nicht den besten Ruf weg. Das wissen selbst die, die kaum von
griechischer Mythologie Ahnung haben. Aber es ist eine verwickelte
Geschichte, aus uralten Quellen, oft überformt und weitergesponnen.
Halbgöttlich ist die „Ratgebende“, die in todbringender Liebe
entbrennt zu Jason, der seine Aufgabe, das Goldene Flies zu
„erwerben“ eigentlich auch nicht überleben sollte. Aber es
gelingt dank der listenreichen Königstochter, bis es, aus
dynastischen Gründen wahrscheinlich, zur tiefverletzenden Trennung
kommt. Medea, auf finsterste Rache aus, tötet zwar nicht den
ungetreuen Jason, aber auch die eigenen, mit ihm gezeugten Kinder. Am
Ende „hellt“ sich das Bild etwas auf, denn Medea, womöglich unter
göttlichem Schutz, entgeht einer Strafe. Soweit ganz kurz ein
komplexer Mythos, der zahllose KünstlerInnen über die
Jahrtausende(!) inspiriert hat, nicht zuletzt die litauische, in
Georgien lebende Darja-Kazimira
Zimina. Deren faszinierende, ritualistische Auseinandersetzung mit dem
Komplex trägt
den Titel Medea
Forgives Jason. Die
Welt ist nicht im Gleichgewicht. Untaten geschehen. Ihnen muss ein
Opfer entgegengesetzt werden. So auch in der blutigen Geschichte von
Jason und Medea und Darja
Kazimira nimmt die Arbeit auf sich. Ausgestattet mit einer Vielzahl
zum Teil selbstgebauter Instrumente führt
uns die Künstlerin
durch einen Prozess, der so etwas wie einen Ausgleich erwirken soll.
Das geht nicht zart. Aber ihre ausdrucksstarke Stimme ist eine starke
Stütze
auf dem Weg. Von Gurren und Keckern bis zu opernhafter Pracht reicht
sie, erinnert momentweise an Diamanda Galas oder Lydia Lunch. Dazu
tritt eine ungemein farbenreiche Instrumentierung, die den
ritualhaften Charakter der Szenerie unterstreicht. Um
nicht missverstanden zu werden: Medea Forgives Jason ist keine Folge düsterer
Lieder und Tänze,
sondern eine komplexe, theatralische Handlung, ein Process-geschehen,
das den Kräften
der Gewalt und deren Einhegung Raum gibt. Das Mythische, halbgöttliche
der Protagonistin, das ein facettenreiches, unlösbares
Hintergrundrätsel
bildet, wird überschrieben
durch die fasslichere Erzählung
der Kindsmörderin,
einer rasenden Furie, die in blinder Wut und Eifersucht das eigene
Blut mordet, um den ungetreuen Ehemann zu bestrafen. Ein Verhältnis,
das sich in unserer Realität
oft genug ins Gegenteil verkehrt. Die Gewalt aber, sie verbindet tiefe
Vergangenheit mit dem Heute und sie erfordert nach wie vor Einhegung
und Sühne.
Darja Kazimira, mit der sich näher
zu beschäftigen,
sie ist in vielen Künsten
zuhause, bietet keine Lösung,
wie auch. Aber in den Klängen
dieses Ablösungs-Rituals
kann mensch sich mal Gedanken über
die Bedingungen des Mensch-seins machen. Und ein bisschen schaudern,
was gar nicht so schwer ist. Nicht zuletzt dafür
liefert die Künstlerin
eine dunkelgrundierte Folie. Anspieltipps:
Morning Of The Severed Head Of A Black Cock,
No, Deities, I Won't Listen To You Anymore, A Hungry Dagger Plays With
My Children,
Dance Of The Obedient With Daggers
Hans
Plesch für ZORES auf Radio Z,
2.7.2024 |