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Testcard #16 Extremismus

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Testcard 16, Extremismus                                                                                        

Ventil Verlag 2007- 302 S., 14,50

Extremismus – ein Wort war spätestens seit 2001 in aller Munde. Gern kurzgeschlossen mit Terrorismus diente es vor allem dem Abbau von Bürgerrechten und verstärkter Überwachung. Es ist dies die konsequente Fortsetzung eines Jahrhunderts, das mensch als eines der Extreme zu beschreiben versucht hat. Und das bezog sich nicht nur auf seine massenmörderischen Qualitäten. Nein, auch in der Kunst begann die Erforschung und Eroberung des Äussersten ihren vielgestaltigen Siegeszug – und alles noch vor der Übernahme durch die Kulturindustrie: Das maximal reduzierte Bild ebenso wie das grösste Panorama, das zufälligste Musikstück ebenso wie das, das sich und alles denkbare Publikum völlig in der Wiederholung erschöpft. Theatermarathon, Performances, Versuche, den je eigenen Körper zum Objekt künstlerischer Exerzitien zu machen. Manchmal gerann es zum Skandal und wurde dadurch und mit Hilfe der Massenmedien öffentlich, denn ein wenig ekelhafte Zurschaustellung vor einem Dutzend Adepten reicht eigentlich nicht recht. Die Arbeit an der Zuspitzung ist von ihrer medialen Wirksamwerdung nur ungenügend zu trennen. Es sei denn, ein Extremismus für Conaisseure bräche sich sozusagen subliminal seine Bahn. Fürs grosse Publikum? Das hat andere Sorgen: der schäbigste Hartz IV-Betrüger, die meisten vergrabenen Säuglingsleichen, das abgefeimteste Schulmassaker. Könnte mensch meinen. Das aktuelle Testcard geht der Sache trotzdem nach, einschliesslich Minderheitenprogramm ( Runzelstirn & Gurgelstock, Kommissar Hjuler), aber auch in Bereichen mit möglicher grosser Zukunft. Yvonne Kunz untersucht ein spezielles Subgenre, das als Jihad-Rap doch gerne ein umfassendes Publikum erreichen möchte.

Der Beitrag ermöglicht einen weiteren Einblick in eine Geisteshaltung, die ich ganz kurz und unsachlich bescheuert nennen möchte. Sie wird aber propagandistisch gezielt befeuert und durch allfällige Ressentiments leicht gestärkt (vier Finger auf mich).

Fürs politische Geschehen hierorts aber noch einiges fataler ist jener unhinterfragte Extremismus, der aus der sog. Mitte einer nachbürgerlichen Gesellschaft erwächst und ua aus dem christlich-reaktionären bayer. Innenminister Beckstein kurzerhand einen wackeren Antifaschisten macht. (Angesichts eines üblich gewordenen Weltbilds müssen sich die Nazi eigentlich ganz schön anstrengen.)

„Schwarz-Rot-Geil“, das sich trotz Inszenierung selbsterfüllende Sommermärchen 2006, verbindet Feierfreude und temporäre Gastfreundschaft mühelos mit alltagsüblicher Fremdenfeindlichkeit und repressiver Toleranz. Popbands machen gerne (deutschsprachige) Musik dazu und so kommt nebenbei die Quote noch zu ihrem guten Recht. Beiträge von Torsten Nagel und Jens Thomas beleuchten die Lage. Martin Büsser beleuchtet in einem Beitrag die eingangs geschilderte Verwurzelung des künstlerischen Extremismus in der bürgerlichen Kultur und wirft die Frage auf, ob sich „wahrer“ Extremismus nicht inzwischen in den Hervorbringungen von Xavier Naidoo und Sönke Wortmann äussert...Auch sog. Popmusik kommt zu ihrem Recht – Antipop versteht sich. Florian Sievers beginnt ausführlich mit den quälenden Anfängen von Throbbing Gristle, damals noch als Künstlerkollektiv Coum Transmission. Es folgte die Transformation in eine Art Band, die der Musikindustrie in ihren Produkten konsequent den Spiegel vorhielt, Anreger einer Zahl interessanter Gruppen und Initiator leider auch manchen Haufens von Idioten, die einen Tabubruch als Selbstzweck missverstehen. John Lydons post-Sex Pistols–Projekt Public Image Limited wird von Andreas Rauscher auf Herz und (gesunde) Nieren geprüft. Mayo Thompson (The Red Crayola) spricht mit Matthias A. Rauch über die nicht allzugrossen Möglichkeiten des subversiven Extrem in der Postmoderne. Natürlich darf auch Mark Stewart (The Pop Group) nicht fehlen.

Einen charakteristischen Fall von Gender-Extremismus in Zusammenhang mit der Jazzszene des mittleren 20.Jhdts schildert Tine Plesch † in der Lebensgeschichte Billy Tiptons. ( Der Text stammt aus dem Nachlass von Tine Plesch )

Wie missverständlich die Elle sein konnte, die geschultes Musikervolk an das Phänomen „Punk“ 1977 legte, beschreibt Frank Apunkt Schneider mit Auszügen aus dem „Fachblatt“

(grusel – wer ist der Extremist?).  Ein weiterer Beitrag Martin Büssers beschäftigt sich in einem Gespräch mit dem  Regisseur Paul Rachman (American Hardcore) mit einer Generation junger MusikerInnen, die quasi unschuldig unzufrieden und ganz auf sich gestellt, den Grundstein für die Verseuchung der Welt mit Hardcore legte. Do it Yourself ist trotzdem eine prima Sache, genau wie die von Musik damals. Susann Witt-Stahl untersucht in ihrem Text „Party in der Gaskammer“, wie Holocaust-Thematik zunächst als bewusstes Schock- und Differenzierungsmerkmal, später aber zum blossen Distinktionsgewinn in Sachen „Krassheit“ verwendet wird und zum billigen Reiz des Bösen verludert. Merkwürdigkeiten der filmischen RAF-Rezeption zwischen Exploitation und Schwulenporno stellt Christian Hißnauer vor. Überhaupt ist Film eine unausschöpfliche Schule populären Extremismus, wie weitere Beiträge verdeutlichen. Marcus Stiglegger schreibt über das hochaktuelle Kino Bruno Dumonts, Ivo Ritzer beschäftigt sich mit der ziemlich schaurigen Serie der „Mondo...“-Filme. Auch die zeitgenössische Performance-Scene, der Grenzüberschreitungen nur noch schwer und dann eher im Unauffälligen gelingen, wird von Enno Stahl einer Betrachtung unterzogen.

Jonathan Meese erweist sich schliesslich im Interview mit Moritz Honert als das nette Kuschelmonster von nebenan, trotz aller Totenköpfe und Hitlerschnurrbärte.

Als faszinierenden Bonustrack liefert Testcard – Beiträge zur Popgeschichte in seiner 16. Ausgabe den transkribierten und übersetzten Audiokommentar zum Film „Ghandis willige Vollstrecker“. Unterzogen hat sich der Mühewaltung Johannes Ullmayer.

Hinzuweisen wäre noch auch den umfangreichen Teil mit Produktrezensionen, an dem nebenbei auch der Autor geringfügig beteiligt war. Es finden sich da also ua alle Tonträger, die wir in ZORES übersehen haben,die wir uns nicht leisten konnten oder auf deren Eintreffen wir noch warten. Es ist immer aller Mühe wert, die Beiträge zu studieren und Hinweise auf alle möglichen Arten von Musik zu finden, von deren Existenz mensch auch in den Zeiten von Myspace nichts wusste. Oder ich verbringe zu wenig Zeit im Web...

Vorläufiges Fazit: Es ist gar nicht so leicht mit dem Extremismus in der Popkultur. Einerseits liegt seine Geschichte schon ziemlich abgenagt hinter ihm, andererseits lauert er kaum beachtet in Abgründen des Alltags, um in unauffälliger Maskerade zu wirken.  Offensichtliche Zuspitzung scheint, bis auf wenig erwünschte Ausnahmen, kaum mehr möglich. Aber die mediale Welt giert, mehr den je, nach Extremen, da gibt’s dann Insektenfressershows, Dramen um käufliche Nieren und Oliver Pocher muss zu Harald Schmidt ins Studio. Wahrer Extremismus liegt heute womöglich in einer gewissen Sorgfalt, in Uneindeutigkeit, Selbstständigkeit und womöglich im Verzicht auf handfesten Schrecken.

Hans Plesch für ZORES auf Radio Z, 5.6.2007